Henriette Schwadan - Die künstlerische Vorstellung des Sehsinnes

Die alten Sehtheorien werden meist nicht als eine seelische Betrachtung der intentionalen Beziehung des Sehprozesses erkannt. Wie ein solches Verständnis zu Bereicherung des Seelenlebens beitragen kann, wird hier auf originelle Art veranschaulicht.

Leseprobe:

... Die alten Sehtheorien scheinen aus Naivität geboren. Vieles hat sich bezüglich der Anatomie als falsch herausgestellt. Bemerkenswert ist, dass zu dieser Erkenntnis auch Leonardo da Vinci wesentlich beitrug. Als er ein präpariertes Gehirn mit Wachs ausgegossen hatte, veranschaulichte er, dass im Hirn weit mehr vorhanden war, als es bisher gedacht hatte. Das Wissen um die drei Kammern, die mit den Sehstrahlen, die das Auge aussendet, in Verbindung gebracht worden waren, ließ sich durch die äußere Betrachtung nicht halten.

Andererseits hat das moderne Vorstellungsbild des Sehprozesses (bei allem praktischen Wert) eine Ebene, die unbefriedigend bleibt. Der Bezug der Person zum gesehenen Bild geht in der Vorstellung der Physiologie mit zielloser Leitungsführung und verstreuten Empfängerzellen am eigentlichen Adressaten vorbei. Dies ist deshalb der Fall, weil sich im Gehirn die Stelle, wo der Betrachter sitzen müsste, nicht orten lässt. Bis zu dem Moment, in dem elektro-chemische Impulse transportiert werden, kann der Betrachter noch hoffen, dass ihn die Bildinformationen im nächsten Moment noch persönlich erreichen. Aber diese Hoffnung ist vergebens. Es verlieren sich die Impulse in der komplizierten Differenziertheit des Gehirns. Die Felder, die damit zu tun haben, lassen sich messen, doch kann der Betrachter genauso wenig wie zuvor begreifen, wie und wo ihm ganz persönlich die Bilder der wahrgenommenen Welt begegnen.

Das alte Vorstellungsbild löst die Problematik auf zunächst recht naiv anmutende Weise. Das Material zu dieser Darstellung ist im Wesentlichen dem Buch »Die Welt des Auges« von Heinrich Schipperges (Leiter des Institutes für die Geschichte der Medizin in Heidelberg) entnommen. Die einzelnen Vorstellungen zu diesem 3-Kammersystem variieren je nach Zeit, Ort und Persönlichkeit geringfügig. Sie finden sich in ihren Grundzügen zusammengefasst und werden etwas verdeutlicht.

Es ist sicher kein Zufall, dass sowohl das Gesicht des Menschen als auch das Gesicht, das man als Vision haben konnte und der Gesichtssinn - so hieß der Sehsinn früher - vom gleichen Wort erfasst werden. Man stellte sich den Gesichtssinn damals wesentlich aktiver vor: Das Auge wurde als bedeutend aktiver als eine Camera Obscura, in die ein fertiges Bild projiziert wird, begriffen.

Man stellte sich Fühlfäden, Sehstrahlen oder ein Feuer, direkt vom Auge ausgehend, vor. Dieses Vorgestellte streckte sich nun zu den Sehdingen in den Raum und kam von diesen beeindruckt wieder zurück. Nachdem das so Zurückgekehrte eine Reinigung im Auge erfahren hatte, konnte es seinen Weg in drei Gehirnkammern nehmen. Diesen Gehirnkammern wurde genau wie einer Landschaft ein Klima zugeordnet. Dieses Klima musste den Prozessen, die in diesen Kammern stattfinden, entsprechen. Diese Vorstellung knüpft an die Elementenlehre an...