1. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."

Diese Aussage ist eigentlich nicht besonders neu. Schon die Alte Malerei hat in ihren Symbolen und Sinnbildern schon immer versucht, geistige oder religiöse Tatsachen darzustellen. Ob es nun Meister Bertram, Leonardo da Vinci, Rubens oder Casper David Friedrich, der übrigens ein ähnliches Zitat vorzuweisen hat, war – alle haben nicht das Sichtbare abbilden wollen. Im Gegensatz zu Klee benutzten sie die Gegenstände als Metaphern oder Allegorien. Klee dagegen versuchte, geistige Tatsachen ohne die Hilfsmittel der Symbolik auszudrücken. Er hatte auch nicht das Ziel, Inhalte der Religion oder den Mythen einfach äußerlich zu übernehmen, sondern ging von den einfachsten, nicht gegenständlichen Phänomenen aus. Kraftverhältnisse sind ein Beispiel für solche Tatsachen. Kräfte kann man nicht sehen. Zwar kann man ihre Stärke messen oder in Zahlenwerten sichtbar machen und sich beim Einsatz einer Kraft über das Ergebnis freuen, bei der Statik braucht es jedoch oft ein Gleichgewicht der Kräfte. Bei Maschinen weisen Teile der Konstruktion wie Transmissionsriemen, Hebel, Räder und Kettentriebe auf die Weiterleitung von Kräften hin. Die Kraft selbst bleibt unsichtbar.

2. „Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, dass das Sichtbare im Ver¬hältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und dass andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind.“

Unter dem obigen Gesichtspunkt ist diese Aussage verständlich, aber nicht so, dass damit die Welt aus den Angeln gehoben wird. Klee hat sehr viele Bilder mit dem Thema Kraft, Gleichgewicht und Kraftwege gemalt. Wie ist es möglich zu einer wahrhaftigen Darstellung von Kräften im Medium der gegenstandslosen Malerei zu gelangen? Oft sind als Formelement Pfeile, die eine Dynamik im Bild bewirken, in der gestalteten Farbfläche ausgenommen.

Etwas anspruchsvoller sind die Beobachtungen des Pflanzenwachstums. Unendlich oft taucht das Thema bei ihm auf. Blattformen, was ihre Gliederung und die Spreite ausmacht, wird experimentell ins Bild aufgenommen. Manchmal sind es auch die rhythmischen Wiederholungen, die das Wachstum ausmachen, die sich in den Bildern zeigen. Wie ist aber nun der Wachstumsstrom sichtbar zu machen? Schon Goethe hatte die Idee, die Pflanze von ihrer Metamorphose her zu begreifen. Er versuchte, alles auf ein sich wandelndes Blattprinzip zu beziehen. Vielleicht spielt auch Platons Lehre von den Urbildern, die im irdischen Naturfluss zu einer konkreten, stets sich verändernden Gestalt finden, eine Rolle. Müsste nicht hier das Göttliche, das ihm und seinen Zeitgenossen in der tradiert religiösen Ebene eher dogmatisch als lebendig erschien, direkt als lebendige Kraft zu finden sein? Im Weiteren des Zitates lebt so etwas wie eine Werkstatt-Stimmung dieses Unterfangens.
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